Anmerkungen zu The Well-Tuned Piano
La Monte Young

Stimmen ist eine Funktion der Zeit. Da durch das Stimmen eines Intervalls eine Relation zweier Frequenzen in der Zeit hergestellt wird, verhält sich der Grad der Präzision proportional zu der Dauer der Analyse, sprich, zu der Dauer des Stimmungsvorgangs. Folglich ist es notwendig, diese Frequenzen über längere Zeiträume hinweg aufrechtzuerhalten oder zu wiederholen, wenn ein höherer Standard der Präzision angestrebt wird. Die Tatsache, dass diese Information kein allgemein verbreitetes Wissen unter Musikern ist, mag ein Grund dafür sein, dass sich in der Musik nur wenige Beispiele – siehe Organum, Pedalpunkt und Bourdon – für lang gehaltene Töne finden lassen. Andererseits wissen Astronomen seit geraumer Zeit, dass sich bei einer viele Jahre in Anspruch nehmenden Messung oder eines Vergleichs zweier Umkreisungen [eines Planeten oder Sterns] der Grad der Präzision der Messung proportional zu der Dauer der Messung verhalten wird.
(Aus dem Booklet zum Album The Well-Tuned Piano, Seite 7)

Die Präzision der Stimmung von The Well-Tuned Piano ist sehr hoch und keinesfalls in ein paar wenigen Tagen zu erreichen. Am besten ist es, die Stimmung über lange Zeiträume hinweg zu entwickeln, mindestens aber über ein paar Wochen hinweg. Denn jedes Mal, wenn das Klavier bewegt wird, können feine Nuancen der Stimmung verloren gehen. Mir war klar, dass man die Stimmung bis zu einem Grad perfektionieren könnte, der alles bisher Erreichte übertreffen würde, wenn ich einen permanenten Standplatz für das Klavier mit geeigneter Raumtemperatur und Raumfeuchtigkeit zur Verfügung hätte. Die Art und Qualität meines Spiels ist proportional abhängig von der Qualität der Stimmung. Ist die Stimmung von großer Feinheit, schlägt sich das auch in der Aufführung nieder.

Die Technik meines Klavierspiels hat sich im Grunde aus meiner Fingerfertigkeit im Umgang mit dem Saxophon entwickelt, das ich seit meinem siebten Lebensjahr spiele. In der Highschool hatte ich dann mit Harmonieübungen auf dem Klavier meiner Eltern begonnen und auch Blues gespielt. Anschließend erhielt ich ungefähr zwei Jahre formalen Klavierunterricht. Zusätzlich studierte ich Kontrapunkt bei zwei großartigen Pianisten: Bei Schönbergs Schüler Leonard Stein, bei dem ich auch Komposition lernte, und bei dem renommierten Musikwissenschaftler Dr. Robert Stevenson, der mich ebenfalls in Harmonielehre unterrichtete. Die Möglichkeit, von diesen beiden großartigen Lehrmeistern zu lernen, verfeinerte zweifellos meine Sensibilität für das Instrument. In den Jahren 1962 bis 1964 hatte ich eine Technik entwickelt, auf dem Sopransaxophon extrem schnelle Permutationen und Kombinationen von bestimmten Tongruppen zu spielen und so den Eindruck eines gehaltenen Akkords zu erzeugen, obwohl dieses Instrument nicht dafür gebaut war. Diese “Akkorde” umfassten oft ein äußerst breites Spektrum des Instruments, ganz im Gegensatz zu der polyphonen Technik, mit der normalerweise nur ein paar wenige Töne eines wesentlich engeren Spektrums gehalten werden. Ich begann schließlich, meine Spielweise aus extrem schellen Kombinationen und Permutationen von Tönen auf meine Aufführungen von The Well-Tuned Piano zu übertragen.

Da 1975 die Möglichkeit bestand, das Klavier bei den für dieses Jahr geplanten Aufführungen bereits einen Monat zuvor an Ort und Stelle zur Verfügung zu haben, gelang es mir, die Stimmung über den zwei Monate dauernden Zeitraum, in dem sich Konzerte und Stimmungsperioden abwechselten, bis zu einem bis dahin unbekannten Grad zu vervollkommnen. Als Ergebnis dieser sorgfältigen Stimmung meiner harmonisch in Bezug stehenden Intervalle und mittels spezieller Fingertechniken, die ich speziell dafür entwickelt hatte, kamen eine Reihe beachtlicher Aufführungen zustande. Als ich einige längere Abschnitte aus sehr schnellen Permutationen und Kombinationen bestimmter Gruppen von Tönen spielte, war es tatsächlich möglich, den resultierenden Klang einiger Tongruppen zu hören. Zusätzliche Schwebungen pulsierten als Klangwolken über dem Klavier und erfüllten den gesamten Raum bei der periodischen Energieakkumulation während der besonders langen Passagen. An diesem Punkt wurde mir bewusst, dass ich ein Phänomen erzeugt hatte, was meines Wissens nach bisher keinem anderen Musiker gelungen war. Das heißt, meine Finger synchronisierten die Rhythmen der Klavierhämmer mit den Rhythmen der akustischen Pulse auf eine Weise, dass daraus ein Resonanzsystem entstand. In diesem System der Resonanzen werden die von den Rhythmen der Klavierhämmer erzeugten Pulse zur Verstärkung der Pulse der resultierenden Töne synchronisiert, die ihrerseits wieder die Frequenz des Anschlags bestimmen. Und als Folge dieses Phänomens, sprich, dieses Systems der Resonanzen, war es möglich, zum ersten Mal in der Musikgeschichte (und ohne elektronische Unterstützung) eine kontrollierte, tatsächlich wahrnehmbare, akustische Synchronisation von Tonanschlag und daraus resultierendem Klang darzubieten.

(Auszug aus dem Booklet zur DVD Edition, Copyright © La Monte Young 2001)
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